leseprobe emscherneck



Hans van Ooyen

Die Rückkehr der Wassermänner
Mit Emscherneck junior durch das neue Emschertal

Ein dokumentarisches Märchen



Ich bin 109 Jahre alt, also ein sehr junger Wassergeist. Vater meint, das sei gerade das richtige Alter für ein Abenteuer. Mit 109 habe er jedenfalls das ganze Emschertal unsicher gemacht. Ich solle mir endlich die Algen aus den Ohren putzen und das beschauliche Flussbett verlassen, in dem er mich aufgezogen hat. „Lass dir die Wasser der Fremde ins Maul schwappen“, hat er geblubbert. „Reisen bildet und öffnet Augen, Herz und Verstand.“

Heute, am Vorabend meiner Abreise, ist mir etwas mulmig zumute, denn ich habe nicht die geringste Ahnung, was mich in der Fremde erwartet und wie ich mich zurechtfinden werde ganz ohne väterlichen Beistand. Nun aber gibt es kein Zurück mehr: Mein Bündel ist geschnürt, und wenn der Morgen graut, will ich mich auf den Weg machen zu jenem Ort, an dem meine Wiege stand: Zur Emscher geht die Reise, in die Heimat der Emschernecks, die ich bisher nur aus Erzählungen kenne.

Kurz nach meiner Geburt verließen wir den Fluss, in dem die Familie über Jahrtau-sende ein gutes Leben führen konnte. Für Vater ist die Emigration bestimmt keine einfache Entscheidung gewesen, denn die besten Flüsse, Seen und Teiche weit und breit waren längst von den Sippen anderer Wassermänner bevölkert, von Krappenkerlen und Shopiltees, von Grindylows und Fossegrims, von Söetrolden und Vodniks und wie die Familien sonst heißen mögen. Vater hat jedenfalls lange suchen müssen, bis er endlich einen Fluss fand, in dem er uns einen neuen Kristallpalast bauen konnte. Das müssen für ihn schwere Zeiten gewesen sein, und wenn sein Freund, der Nordseemann Ekke Nekkepenn, nicht gewesen wäre, stünden wir vielleicht noch immer ohne ein Zuhause da.

Über die Gründe unserer Flucht weiß ich nicht viel, denn Vater vermeidet dieses Thema nach Möglichkeit. Ich konnte jedoch erfahren, dass die Emscher vor meiner Geburt ein idyllisches Flüsschen gewesen sein muss, in dem es sich trefflich leben ließ als Wassergeist. Dann aber zogen viele Menschen ins Emscherland, um in der Tiefe der Erde Kohle abzubauen und in düsteren Fabrikhallen Eisen zu gießen. Die Leute leiteten ihre Abfälle in die Emscher, das Flussbett wurde begradigt, die Ufer wurden in Beton gegossen, und der kristallklarte Fluss wurde zur Kloake des Ruhrgebiets. Ich kann mir gut vorstellen, dass Vater es bald leid war, in einem Abwasserkanal zu hausen und die zähe Brühe aus Kot, Chemikalien und Schlachthofabfällen zu schlürfen.

Das war das Ende der Wassergeister im Emschertal und auch das Ende jener Ge-schichten, die die Emschertaler sich seit den frühen Zeiten über uns erzählt haben. „Wenn die Wassermänner den Fluss verlassen“, hat Ekke Nekkepenn ge-sagt, „dann hören nicht nur die Geschichten auf, dann stirbt der Fluss. Da rührt sich bald kein Leben mehr, und der Fluss wird zu einer Gefahr für die Menschen und muss hinter Zäune gesperrt werden, damit niemand in seine Nähe kommt. Wer wird die Leute vor dem Ertrinken bewahren, wenn die Wassergeister weggegangen sind? Wer wird die Fluten von ihren Häusern fern halten? Wer wird die Furten und Brücken bewachen? Und wer wird den Menschen die Zukunft vorhersagen, wenn die Wasserleute erst vertrieben sind?“  

Vater leidet unter dem Verlust der Heimat. Manches Mal habe ich ihn dabei über-rascht, wie dicke Perlentränen aus seinen Augen kullerten. Wenn ich ihn darauf ansprach, hat er nur jedes Mal geseufzt: „Meine Emscher … der Fluss meiner bes-ten Jahrhunderte.“ Und dann hat er schnell eine Perle aus den Augenwinkeln ge-wischt, hat die klobige Nase hochgezogen und gebrummelt: „Das verstehst du nicht, Junior. Auch ein Wassermann darf mal einen sentimentalen Moment ha-ben.“

So ist es über all die Jahrzehnte gegangen. Die Sehnsucht nach dem Fluss, in dem er Kindheit, Jugend und seine besten Wassermannjahre verbracht hat, bedrückt Vater zuweilen so sehr, dass ich einfach mitweinen muss, wenn ich ihn nur ansehe. Seit mehr als hundert Jahren träumt er schon davon, eines Tages in die Heimat zurückkehren zu können, doch bislang schien es, als sollte ihm das nie mehr möglich sein. 

Seit kurzem aber gibt es Hoffnung: Ein Luftkobold, der viel herumkommt, hat berichtet, an der Emscher tue sich etwas. Die Kloake solle bald wieder ein sauberer Fluss werden, und überall an den Ufern werde schon daran gebaut.

Morgen also beginnt meine Expedition ins Emschertal. Ich soll herausfinden, was an der Sache dran ist. Ob es dort eine Zukunft für Wassergeister gibt, will Vater wissen.

Am liebsten wäre er wohl selbst losgezogen, aber seit Jahrzehnten plagt ihn ein übles Reißen im Rücken, vom kalten Wasser wohl, das aus den Tiefen der Berge kommt und durch unsere Wohnstatt strömt. Also muss ich ihm diesen Weg abneh-men und mich an seiner Stelle im Land der Emscher umsehen. Vielleicht finde ich dabei auch eine Spur meiner Mutter, von der ich nur weiß, dass sie eine Nixe gewesen sein soll.

In diesem Tagebuch will ich aufschreiben, was mir während meiner Expedition durch das Emschertal begegnet. So werde ich nichts vergessen und kann Vater bei der Rückkehr einen vollständigen Bericht liefern.
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